RAYMOND JARCHOW | ALTE MÄNNER
Jürgen D. – sechsundsechzig
Navigation: zurück
Jürgen  D.
Wer als Pastorenkind aufwächst, damals war es jedenfalls so, muss den Erwartungen der andern immer irgendwo gerecht werden und nett und freundlich zu allen sein. Du lebst auf dem Präsentierteller. Wenn die Tür aufgeht und Besuch kommt, dann ist die Familie zu Ende.

Am Ende meiner Lehre, da waren wir so ne ganze Clique. Jeden Abend woanders, hoch die Tassen und Mädchen. Eine schöne Zeit war das.
Und immer wurde es spät. Eines Abends kam ich nach Hause, bestimmt zwei Uhr nachts. Da stand mein Vater vor mir. Ich war ich ja schon 22 oder 23 Jahre alt. Da wollt er mir eine runterhauen. »Du hast dich rumgetrieben und hast getrunken, das tut man nicht. - Ja,« sagte er, »als Pastorensohn tut man das nicht.« Und: »Du kannst auch mal vernünftig sein.« und solche Sachen. Wie zu einem kleinen Jungen. Ich war ja auch betrunken. Ich hab ihn ausreden lassen, bis er ruhig war und dann bin ich ins Bett gegangen. »Kannst mich mal am Arsch lecken!« habe ich gesagt.

Der Tenor meines Vaters für seine Theologie war: nur das Wort zählt, das Wort Gottes. Das Wort, das zählt. Das Wort, das Wort, das Wort. Was von der Kanzel in der Kirche verkündet wird, das zählt. Alles andere ist dem untergeordnet. Weswegen ich dem Wort immer mehr Misstrauen entgegengebracht habe. Bevor das Schuldesaster kam, hatte ich schon vor, auf keinen Fall Theologie zu studieren. Als der blaue Brief kam, bin ich gleich abgegangen und habe eine Buchhändlerlehre begonnen. Das war erstmal eine Erlösung. Der Albtraum Schule hörte auf und ich konnte mit meiner Hände Arbeit etwas machen.

Mein Vater hat merkwürdigerweise nie offen ausgesprochen, was er von mir erwartet. Wenn er das mal gesagt hätte, vielleicht hätte ich dann daraus etwas gemacht. Oder ich hätte meine Position vertreten. Jedenfalls wäre es offen gewesen. So waren da immer im Verborgenen unausgesprochene Erwartungen. Vielleicht hab ich auch nicht genug drauf gehorcht, ich weiß es nicht.
 mehr lesen
Navigation: vor